Erinnerung an Unmenschliches in stilvollem Ambiente -

Holocaust-Überlebender sprach in Schloss Crottdorf>>>08.05.09


Burgtore und Wassergräben, Wappen und Stuckdecken, ein überdimensionaler Leuchter aus Bleikris­tall, unzählige wertvolle alte Bücher in gediegenen Wandregalen, ein echter Schlossherr als Gastge­ber, zum Schluss ein kleiner Imbiss als Bankett auf der Zugbrücke – der Ort des Geschehens zog die Zuhörerschaft ganz offensichtlich in ihren Bann. Friedvolle (?), alte Geschichte war zum Greifen nah und entrückte die Gäste zumindest für den Augenblick der Gegenwart.

Doch nicht mittelalterlich-mystische Märchenwelten, sondern die hässliche Realität der Judenver­nichtung im Dritten Reich war der Grund, weshalb sich am vergangenen Donnerstag  zu abendlicher Stunde im großen Empfangssaal etwa hundert Personen in Schloss Crottdorf bei Friesenhagen zu­sammengefunden hatten. Meist waren es Kurse verschiedener Schulen, darunter auch etliche Schü­lerinnen und Schüler unserer Klasse 10 D und ihre Klassenlehrer Heike Niwar und Werner Jüngst. Auch einige Eltern der Gesamtschule Eiserfeld, die dankenswerterweise den PKW-Transport für die 10 D übernommen hatten, waren unter den Zuhörern.

Auf Einladung des Grafen von Hatzfeld erzählte Jerry Rosenstein, mittlerweile 82 Jahre alt und seit 1948 Einwohner von San Francisco, vom  Leben und vor allem vom Überleben in der Emigration in Holland und in Auschwitz.

Die Fakten sind schnell zusammengetragen: Geboren im südhessischen Bensheim an der Weinstraße in den Zwanziger Jahren als Sohn eines sehr wohlhabenden jüdischen Möbelfabrikanten erlebt Ro­senstein schon als Schulkind den brutalen deutschen Antisemitismus. Als Schüler eines renommier­ten Gymnasiums wird er oft gehänselt, vom Vater eines Mitschülers am Schultor geschlagen und misshandelt; er sieht mit an, wie man seinen Eltern nachts das Auto in der Garage anzündet und sie aus dem Geschäftsleben herauszudrängen versucht. Es folgen die Emigration nach Amsterdam, ab 1940 die ständige Angst vor der Deportation durch die deutschen Besatzungstruppen und schließlich 1943 der Abtransport der  „Rest-Familie“  -  ein Bruder ist bereits 1942 in Auschwitz umgekommen, ein weiterer Bruder lebt als Zionist in Israel - in das KZ Bergen-Belsen.

Von dort kommt die Mutter nach Theresienstadt, Jerry Rosenstein und sein Vater werden nach Ausch­witz deportiert. Hier begegnen sie dem berüchtigten Arzt Josef Mengele, der sie zum Arbeitseinsatz in ein KZ-Außenlager selektiert.

Wie durch ein Wunder überleben Jerry Rosenstein und beide Eltern als Arbeitssklaven im Wider­schein der Feueröfen von Birkenau, gelangen mit Hilfe der Roten Armee auf abenteuerlichem Weg durch die vom Krieg zerstörte Sowjetunion nach Frankreich, schließlich nach New York. Dort baut sich sein Vater eine neue Existenz auf, Jerry selber zieht nach Kalifornien, wo er als Kaufmann und Mit­glied in diversen linksliberalen Wohltätigkeitsorganisationen tätig ist. Die Verarbeitung des Erlebten hat Jahrzehnte gedauert, erst seit etwa 20 Jahren kann Rosenstein offen und auch in Deutschland über das Erlebte sprechen.

Wie alle Zuhörer waren  auch unsere Schülerinnen und Schüler  tief beeindruckt von Jerry Rosenstein und seiner Lebensgeschichte, tief beeindruckt  aber auch von seiner unglaublich vitalen und fast ju­gendlichen Ausstrahlung. Mit Witz, Charme und ohne jegliches Selbstmitleid erzählte er uns seine Lebensgeschichte und verbreitete so trotz des bedrückenden Inhalts seines Vortrags zu keinem Zeit­punkt ein depressive Atmosphäre.

Immer wieder motivierte er uns Zuhörer zum Dialog und zu Fragen, welche er geduldig beantwor­tete. Wie man ständige Lebensangst aushalten könne? Wie er die Wehrmachtssoldaten im Unter­schied zu der SS empfunden habe? Ob seinem Vater als Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkriegs das Eiserne Kreuz genutzt habe? Wie man in Ausschwitz habe überleben können? Wie er nach dem Krieg seine Erlebnisse verarbeitet habe? Ob ihn die Erinnerung an besonders grausame Erlebnisse noch plage? Wie gut er seine Nachbarin Anne Frank und ihre Eltern gekannt habe?

Dabei vermied Rosenstein allzu plakative Details, verwies stattdessen  immer wieder auf die Verant­wortlichkeit des einzelnen bei Verfolgung und Genozid – auf dem Balkan, in Darfur, in Südasien, ge­gen Rechtsradikale in der eigenen Umgebung. Dies sind auch jetzt im hohen Alter noch die Felder, auf denen er als einzelner im Rahmen von Hilfsorganisationen aktiv zu helfen versucht.

Nur eine Frage hat Rosenstein ungewohnt kurz und einsilbig beantwortet, ob er seither noch einmal in Auschwitz gewesen sei. „Nein. Ich glaube, d a s würde ich nicht aushalten!“

w. jüngst