Doch treffen wir hier auf andere Grenzen: Der Weg zum Altstadtviertel – eben noch modern oder am Ort des Attentats von 1914 kaiserzeitlich-österreichisch anmutend, dann schlagartig orientalisch mit Minaretten, vollverschleierten Frauen und Basaratmosphäre. Die innerstädtische Hauptverkehrsstraße, vor 25 Jahren noch als „Sniper-Allee“ eine der tödlichen Frontlinien im Bürgerkrieg: wie überall in der Stadt markieren augenfällige dunkelrote Lackspritzer Stellen, an denen Menschen in größerer Zahl getötet wurden. Die beschossene Bobbahn der Winterolympiade von 1984 in den fast 2000 Meter hohen Bergen um Sarajewo, einst Wettkampfstätte, dann umkämpfte Artilleriefront.
Unser bosnischer Tourguide erläutert uns in fließendem Englisch, dass wir im Stadtgebiet bereits mehrfach die Grenze zwischen serbischem und bosnischem Gebiet überquert haben: imaginär versteht sich, gleichwohl in den Köpfen der geographisch völlig isoliert wohnenden Orthodoxen und Muslimen – noch ? – bedrohlich präsent.
Ein ähnliches Grenzbild bietet sich uns beim Abstecher ins bosnische Mostar. Hier begegnen uns häufiger als in Sarajewo zerschossene Hauswände und Kriegsruinen. Und auch hier ist eine der Hauptstraßen die Grenze zwischen muslimischen Bosniern und – katholischen Kroaten. Keine gemeinsame Schule, kein gemeinsamer Kindergarten! Es wird schon lange nicht mehr geschossen, aber Frieden ist anders! Anschaulicher und zugleich bedrückender kann Unterricht über die verheerende Wirkung von kompromisslosem Nationaldenken kaum sein.
Wir verlassen Mostar und „fahren“ über hohe Balkanberge weiter Richtung Split. An den steilen Pässen zwischen Mostar und kroatischer Grenze wäre das Wort „schleichen“ eher angebracht, denn unser Bus verliert immer wieder an Geschwindigkeit. Die wirklich gute Stimmung unserer geduldigen Gruppe im Bus wird auch durch das „ungesunde Kriechen“ des Reisegefährts kaum beeinträchtigt – zunächst jedenfalls. Das ändert sich jedoch, als kroatische Grenzbeamte unter dem vorderen Busunterteil einen arabischen Flüchtling entdecken! Die Studien-Fahrt gewinnt einen Grad an Aktualität, den wir nur schwer ertragen können!
Unerwartete Grenzen zeigen sich uns dann auch am nächsten Tag im sonnigen Urlaubsparadies Split beim maritimen Entspannen: ein übermäßiges Auskosten der angebotenen Skijet-Vergnügen ruft die körpereigene Nackenmuskulatur auf den Plan und plötzlich scheint für einige der eigene Kopf gefährlich schwer zu werden. So lernen wir nicht nur die römisch-antiken Strukturen von Split kennen, sondern auch das größte Krankenhaus vor Ort. Zum Glück ist aber nichts Ernsthaftes passiert.
Schließlich heißt es dann Abschied nehmen von der schönen Balkanküste. Auf dem Weg nach Slowenien sind alle bester Laune. Doch die Grenze kommt schneller als erwartet: nicht die slowenische, wohl aber die des Busses oder besser gesagt: die seines Anlassers. Exitus! Wir warten entspannt bei einer Runde Bier, etwas Hochprozentigem und einigen Schischas auf den kroatischen Ersatzbus. Der kommt auch kurz vor Mitternacht – Ende gut, alles gut! Oder?
Ob er uns denn bis nach Siegen fahre oder nur bis zur deutschen Grenze, fragen wir den Busfahrer. Weder noch, meint er, nur bis zum Hauptbahnhof von Zagreb. Was zunächst wie ein lauwarmer Scherz wirkt, ist nachts um ein Uhr dann kalte Wirklichkeit bei Nieselregen, 14 Grad und verschlossenen Bahnhofstüren! Es folgt ein dreistündiger Hostel-Not-Aufenthalt in Bahnhofsnähe, eine elfstündige Zugfahrt quer durch Slowenien und Österreich sowie eine knapp achtstündige Bus-Rückfahrt ab München mit Schlenker über Fulda. In dieser Zeit entdecken nicht wenige von uns ganz viele weitere Grenzen, vor allem die der eigenen Kondition.
Mit 14 Stunden Verspätung sind wir wieder in Eiserfeld – todmüde und dennoch glücklich. Glücklich, weil wir „es“ geschafft haben und „es“ nicht uns! Ganz sicher eine Fahrt mit vielen Grenzerfahrungen, die so schnell niemand von uns vergisst!